Die ignorierten Mahnrufe

Die Uneinigkeit der Linken erleichterte den Nazis die Niederschlagung ihrer Gegner

Von Heinz Niemann

»Zwingt die Führer der SPD, des ADGB und der KPD zum gemeinsamen Kampf!«, titelte die Zeitung der Kommunistischen Partei Opposition (KPO) »Arbeiterpolitik« am 4. Februar 1933. Damit setzte sie ihre Taktik der Einheitsfront von oben und unten sowie ihre schon seit Jahren geübte Kritik an der KPD-Führung fort, der sie vorwarf, sich nicht längst auch an die Spitzen der SPD und des ADGB mit vernünftigen Einheitsfrontangeboten gewandt zu haben.
Zweifellos bestand fast überall in den proletarischen Organisationen bis hinein in linke Kreise von Intellektuellen und Künstlern Einigkeit über die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes gegen die Nazi-Gefahr. Prominente Künstler und Wissenschaftler wie Käthe Kollwitz, Albert Einstein u. a. wandten sich unmittelbar nach Hitlers Berufung zum Reichskanzler in einem dringenden brieflichen Appell an Theodor Leipart, er solle als ADGB-Vorsitzender die Initiative ergreifen und die Parteispitzen von SPD, KPD und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammenführen.
Die SAP-Spitze, wenn auch selbst von internen Querelen gebeutelt, hatte im Vorfeld der Nazi-Provokation am 22. Januar 1933 vor dem Karl-Liebknecht-Haus der Kommunisten in der Reichshauptstadt die Berliner Leitungen von SPD, ADGB und KPD zwecks gemeinsamer Abwehraktionen zu einem Treffen unter Vorsitz der Gewerkschaft eingeladen. Aber erst die zaghaften Signale des Chefredakteurs des sozialdemokratischen »Vorwärts«, Friedrich Stampfer, in seinem Bericht über Gegendemonstrationen der Kommunisten und das Angebot eines Nichtangriffspaktes zeitigten einige Wirkung. Nun, spät genug, bewegte sich die KPD und mühte sich um direkte Kontakte und Absprachen mit dem SPD-Parteivorstand, während ein letzter »Mahnruf« der SAP zur Einheit vom 30. Januar weiter ignoriert wurde.
Noch am Abend des 30. Januar hinterlegte Walter Ulbricht beim Wachdienst des Redaktionsgebäudes »Vorwärts«, da er von keinem der anwesenden Vorstandsmitglieder empfangen wurde, den wenig später veröffentlichten dringenden auch an den ADGB, den Afa-Bund und die christlichen Gewerkschaften adressierten Appell, »gemeinsam mit den Kommunisten den Generalstreik« auszurufen. Darin waren keinerlei von den angesprochenen Organisationen nicht akzeptierbare strategische Forderungen enthalten. Das galt auch für die intern angestrebten Gespräche zur SPD-Spitze, die sogar intensiviert wurden, nachdem Stampfer, der die sowjetische Botschaft seit einiger Zeit kontaktierte, von Winogradow, dem 1. Botschaftssekretär, mitgeteilt worden war, Verhandlungen seien nun, nach Hitlers Berufung, gegenstandslos geworden.
Während sich die KPD-Führung ähnlich wie schon zuvor die der KPO und der SAP taktisch bewegte und sich der veränderten Lage anzupassen suchte, blieben in der SPD-Führung Aufhäuser, Künstler, Stampfer und Breitscheid mit ihren sehr zaghaften Vorstößen allein und mussten sich dem mehrheitlich gebilligten Kurs von Parteichef Otto Wels unterordnen. Die Wels-Gruppe beurteilte jeden ihrer Schritte primär unter dem Gesichtspunkt, eine Annäherung an die Kommunisten zu verhindern; diese blieben ihr die »gefährlichsten Feinde innerhalb der Arbeiterbewegung«, eine sozialdemokratische Variante der von der KP gerade überwundenen »Sozialfaschismusthese«.
Als in den ersten Tagen nach Hitlers Berufung keine zentrale und einheitliche Gegenaktion erfolgte, war dessen größte Sorge gebannt. Seine Taktik, sich mithilfe der etablierten staatlichen Institutionen zur Macht zu stehlen und nicht durch ein verfrühtes formales Verbot der KPD den Anlass zu bieten, eventuell doch die Einheitsfront zu provozieren, war voll aufgegangen. Solange er jeden seiner Schritte zum Ausbau der totalitären Macht mit Verordnungen des Reichspräsidenten oder Gesetzen durch die Reichstagsmehrheit scheinbar »legalisierte«, drohte seitens der ausschließlich legalistischen Taktik der SPD keine Gefahr.
Der ADGB wähnte sich unersetzbar und hoffte zu überwintern, die SPD wollte nicht und die KPD (deren Funktionäre noch nach unter SPD-Ministern angelegten Listen durch die faschistischen Schlägertrupps von SA und SS leicht aufzuspüren waren) konnte nicht allein aussichtsreich kämpfen. Die SPD-Spitze hatte sich mit ihrer Kommunistenphobie selbst derart aktionsunfähig gemacht, dass auch eine flexiblere und früher eingeleitete Einheitsfrontinitiative »von oben« seitens der KPD daran nichts geändert haben dürfte.
Für die Nazis war es nun möglich, ihre Gegner einzeln, einen nach dem anderen zu schlagen. Zuerst den am meisten gefürchteten, die KPD mit dem Terror nach der Reichstagsbrandprovokation am 27. Februar, am 7. März durch das Verbot der Eisernen Front und des Reichsbanners, am 2. Mai die Gewerkschaften und am 22. Juni endgültig auch die SPD (nachdem die SPD-Restfraktion am 17. Mai noch der Außenpolitik Hitlers zugestimmt hatte). Innerhalb von sechs Monaten hatten die Nazis ihre absolute Macht etabliert.
Das völlige Versagen der SPD-Führung war auch Folge jahrzehntelanger Geringschätzung und zunehmender Abkehr von einer der Wirklichkeit adäquaten theoretischen Wahrnehmung des Charakters und der Ziele des Nazifaschismus sowie dessen frühzeitig erkennbarer Rolle im Konzept der großbürgerlichen reaktionären und revanchistischen Politik. Auf die Analysen anderer linker Parteien hörte man nicht. Die unzureichende Erkenntnis des Wesens des Faschismus, die Verwischung des Charakters und der Grenzen der Demokratie und des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaates führte fast zwangsläufig auch zu einer verfehlten Taktik in der Tagespolitik. Die KPD – durch die Komintern lange in ihrer Frontstellung gegenüber der SPD bestärkt – hatte keine Mittel gefunden, dies zu ändern.
Die verschiedenen Fraktionen der illegalen wie emigrierten Antifaschisten zogen aus der Niederlage zwei entscheidende Lehren: den objektiven Zwang zum gemeinsamen Handeln und die Erfahrung, dass die Arbeiterbewegung der einzige sichere Garant für die Bewahrung (und Weiterentwicklung) realer Demokratie sein müsse. Wie ein roter Faden durchzog der Ruf nach Einheit die nächsten zwölf Jahre – vom 29. Januar 1933 an, als in Berlin Franz Künstler, der Bezirksvorsitzende der SPD, den vielen Tausenden Demonstranten im Lustgarten zugerufen hatte: »Arbeiter, seid einig, dann werdet ihr die reaktionären Gewalten von heute ebenso im Sturm hinwegfegen wie im November 1918. Und dann wollen wir die Unterlassungssünden, die wir damals begingen, wiedergutmachen.« Dieser Wille zwang den emigrierten Parteivorstand der Sozialdemokratie ein Jahr nach Hitlers Machtantritt zur Herausgabe des radikal-demokratischen und sozialistischen »Prager Manifest«, in welchem stand: »Die Einheit wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt!« Doch davon wollten die SPD-Spitzen schon bald nichts mehr wissen und die Sopade, der emigrierte Restvorstand, blieb bis zuletzt bei seiner einheitsfeindlichen Politik.
Franz Künstler erlebte die Befreiung nicht mehr. Aber es waren Funktionäre der zweiten Ebene wie er, die 1945/46 die Chance zur Einheit vor allem im Osten Deutschlands wahrnahmen.

Von Prof. Niemann ist dieser Tage eine »Geschichte der Sozialdemokratie 1914 bis 1945« erschienen.

Antifaschistische Demonstration in Leipzig

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ePaper – 26. Januar 2008