Der „Kurfürstendamm – Krawall“ am 12. September 1931

Der „Kurfürstendamm – Krawall“ am 12. September 1931.
Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer antisemitischen Gewaltaktion

Eine der am meisten verbreiteten und wirkungsvollsten Legenden zur Geschichte des deutschen Faschismus ist die Auffassung, dass den antisemitischen Tiraden der Nazis in der Zeit der Weimarer Republik keine praktischen Handlungen gefolgt seien, die sich in groß angelegten, gewalttätigen Aktionen gegenüber Juden geäußert hätten. Dies sei zum ersten Male erst nach der Machtübernahme beim Boykott jüdischer Geschäfte und Ärzte am 1. April 1933 geschehen. Eben deshalb konnten sich Juden in Deutschland vor dem 30. Januar 1933 angeblich auch sicher fühlen. Erst seit Ende der neunziger Jahren existieren einige auf der Auswertung umfangreichen Quellenmaterials beruhende Studien, die ein anderes, ein realistisches Bild gefährdeter jüdischer Existenz in der Zeit der Weimarer Republik vermitteln.1 Ungeachtet dessen gilt nach wie vor, dass der Antisemitismus in den Jahren vor der faschistischen Machtübernahme im Allgemeinen, seine Militanz gegenüber Juden im Besonderen, vergleichsweise unzureichend erforscht worden ist.
Zu den herausragenden Gewaltaktionen, die von Seiten der Nazis vor ihrer Machtübernahme gegenüber Juden organisiert worden waren, gehört der so genannte Kurfürstendamm-Krawall vom 12. September 1931. Er sorgte weit über die Grenzen der Reichshauptstadt hinaus für großes Aufsehen und gestattet einen bemerkenswerten Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse während der Krisenjahre der Weimarer Republik. Seine Vorgeschichte ist nicht zuletzt mit dem Namen des seit dem November 1926 amtierenden Nazi-Gauleiters von Berlin, Dr. Joseph Goebbels, und der von ihm verfolgten politischen Strategie verbunden.

Joseph Goebbels und sein antisemitischer „Feldzug“ als Gauleiter von Berlin

Goebbels, ein promovierter Germanist, der sich vergeblich als Schriftsteller zu etablieren versucht hatte, war 1924 zur Nazipartei gestoßen.2 Als Geschäftsführer im Gau Rheinland-Nord gehörte er anfangs zu den Anhängern des „sozialistischen“ Parteiflügels um Gregor Straßer, die den uneingeschränkten Führungsanspruch Hitlers in Frage stellten. Auf dem Parteitag der NSDAP im Februar 1926 in Bamberg und in den darauf folgenden Monaten orientierte er sich allerdings, vor allem nach intensiven Gesprächen mit Hitler, innerhalb der Führungsriege der Nazipartei um und gehörte seitdem zu den willfährigsten Gefolgsleuten des selbst ernannten „Führers“, dessen Persönlichkeit, rhetorisches Talent und potenzielle Massenwirksamkeit ihn mehr zu überzeugen wussten als die pseudosozialistischen Rezepturen Gregor Straßers. Im November 1926 wurde er von Hitler als Gauleiter nach Berlin berufen.
Hier wurde der Antisemitismus in Wort und Tat eines seiner bevorzugten Agitationsmittel.
Er sollte als ideologischer Kitt innerhalb der zum Zeitpunkt seines Amtsantrittes noch kleinen und ungefestigten Parteiorganisation dienen, neue Mitglieder zu gewinnen helfen, aber auch solche bürgerlichen Milieus für die Nazipartei aufschließen, in denen traditionell die Feindschaft gegenüber den Juden verbreitet war: so zum Beispiel die Studentenschaft, deklassierte Intellektuelle, Einzelhändler, Handlungsgehilfen und kleine Warenproduzenten.
In der von ihm herausgegebenen Zeitung „Der Angriff“, die weit über die Grenzen der Reichshauptstadt hinausreichend auf große Resonanz stieß, fanden sich oft zügellos-aggressive Beiträge gegen alles Jüdische, so dass von den Behörden immer wieder mit zeitweiligen Publikationsverboten eingeschritten werden musste. So forderte Goebbels zum Beispiel als Berliner Spitzenkandidat der NSDAP für die Reichstagswahlen am 20. Mai 1928, dass die „Juden aus deutscher Verwaltung und Wirtschaft heraus“ müssten; er rief zugleich zum „Kampf gegen die jüdische Geldrasse“ auf und hetzte in denkbar primitivster Weise: „Berlin soll wieder eine deutsche Stadt werden!“3
Vor allem aber startete Goebbels die durchaus öffentlichkeitswirksame Kampagne, den Kurfürstendamm „judenfrei“ zu machen. Dabei konnte er an „Traditionen“ anderer rechtsextremer Organisationen anknüpfen, die seit den Anfangsjahren der Weimarer Republik am Kurfürstendamm und seiner näheren Umgebung immer wieder jüdische Bürgerinnen und Bürger belästigt, beleidigt und auch physisch angegriffen hatten.4
So berichtete zum Beispiel der „Vorwärts“ im Februar 19215, dass „deutschvölkische“ Schlägertrupps auf dem Berliner Boulevard eine regelrechte Jagd auf Juden veranstaltet und mehrere von ihnen verletzt hätten. Die nach der Berichterstattung der sozialdemokratischen Zeitung zu spät eintreffende Polizei habe sechs Verhaftungen vornehmen können. Auffällig sei gewesen, dass bei den Tätern im Gesicht Schmisse erkennbar waren, so dass es sich bei ihnen offenbar um Mitglieder schlagender studentischer Verbindungen gehandelt habe.
Polizei und Justiz vertauschten bei der Aufarbeitung dieser antisemitischen Aggressionen oft Opfer und Täter. Durchaus nicht untypisch ist der folgende Sachverhalt.
Im Februar 1921 musste sich eines der Opfer derartiger antijüdischer Gewaltaktionen, der Student Walter Krotoschiner, vor dem Kriminalgericht in Charlottenburg verantworten, weil er es gewagt hatte, sich gegen militante Antisemiten zur Wehr zu setzen. Im Bericht des „Vorwärts“ über die Gerichtsverhandlung hieß es:
„Als der Angeklagte den Kurfürstendamm entlang kam, stieß er auf eine Ansammlung von etwa 300 Menschen, aus der antisemitische Schimpfworte heraus klangen. Plötzlich sei ein groß gewachsener junger Mann von hinten auf ihn los gegangen und habe ihm das Wort ‚Judenjunge’ zugerufen. Als er sich umdrehte, habe der junge Mann, den er mit seinem Spazierstock von sich wies, das Wort wiederholt, einige Hakenkreuzler seien auf ihn eingestürmt und als er seinen Stock erheben wollte, um sich zu wehren, sei ein Mann in Zivil, der sich nachher als Kriminalbeamter entpuppte, auf ihn losgekommen und habe ihm erklärt, dass er ihm zur Wache folgen solle.“6
Dass sich dieser Beamte weigerte, dem Angegriffenen seine Erkennungsmarke vorzuweisen und die herbeigeeilten Polizisten zunächst weder Anstalten machten, die Schläger festzunehmen noch bemüht waren, Zeugen des Geschehens zu ermitteln, sei hier nur am Rande vermerkt. Immerhin wurde das angeklagte Opfer der antisemitischen Gewalttäter freigesprochen.
Ein weiterer Fall von zahlreichen Vorkommnissen judenfeindlicher Militanz auf dem Kurfürstendamm hatte sich im November 1920 ereignet, wobei ausnahmsweise eine harte Strafe für den antisemitischen Täter verhängt wurde: Im Juni 1921 verurteilte das Landgericht Berlin einen Studenten wegen antisemitischer Pöbeleien auf dem Kurfürstendamm, begangen am 28. November 1920, zu einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Mark. In der ersten Instanz hatte das Urteil auf lediglich 200 Mark Geldstrafe gelautet. Was war geschehen? Etwa zehn Studenten, so der Berichterstatter des „Vorwärts“7, seien um 3.30 Uhr morgens aus einem Bus gestiegen und hätten gerufen: „Wir halten jetzt jeden an, und der erste Jude wird vermöbelt.“ Als der Kaufmann Joustin Sachs auf die Gruppe trifft, wird er mit den Worten: „Du Judensau!“ beleidigt und mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Außerdem erhält er Tritte in die Hüfte. Durchaus typisch für die Verharmlosung derartiger Gewalttaten war die folgende Einlassung des Verteidigers vor Gericht: „Aus einer betrunkenen Mücke soll man keinen antisemitischen Elefanten machen.“
Seit 1926/27 systematisierte Goebbels diese bis dahin meist spontanen Aggressionen gegen Juden auf dem Kurfürstendamm. Immer wieder griffen jetzt Angehörige der so genannten Sturmabteilungen der Nazis (SA) Juden oder nach ihrer Meinung jüdisch aussehende Personen auf der Hauptgeschäftsstraße im Berliner Westen an. Besonders an Wochenenden, an denen auf dem Kurfürstendamm viele Berlinerinnen und Berliner sowie Touristen flanierten, kam es zu Schlägereien und Aufläufen, bei denen die Nazis auch Flugblätter verteilten und antisemitische Sprechchöre anstimmten. Die Aufmerksamkeit der Presse war ihnen auf jeden Fall sicher, zudem konnten sich die Nazis durch ihre antisemitische Militanz von den Antisemiten konservativer Provenienz abheben, deren Distanz zu Juden vor allem durch die weitgehende Verweigerung sozialer Kontakte und eine primär religiös und kulturell fundierte Judenfeindschaft charakterisiert wurde. Demgegenüber propagierten die Nazis, nicht zuletzt ihr Berliner Gauleiter Goebbels, in Wort und Tat den seit den 1870er Jahren grassierenden „rassischen“ Antisemitismus, der in den Juden die Verkörperung alles erdenklich Negativen sah und eine „Verbesserung“ ihrer angeblich seit Jahrhunderten tradierten Eigenschaften, etwa durch die Konversion zum christlichen Glauben, kategorisch ausschloss.8
Leitmotivisch schrieben im August 1919 die „Deutschvölkischen Blätter“: „Die Juden sind eine außerhalb aller anderen Rassen stehende, besondere asiatisch-afrikanische Mischrasse, die der germanischen an Körperbeschaffenheit, Geruch und Denkungsart, kurzum in ihrem ganzen Wesen völlig entgegengesetzt ist.“9 Und im Oktober 1930 formulierte der wirtschaftspolitische Berater Hitlers, Otto Wagener, die folgenden, an Inhumanität und Zynismus kaum zu überbietenden Sätze: „Ein Dackel, der von einem Dackelrüden gezeugt, von einer Dackelhündin in einem Windhundzwinger geboren wird, bleibt ein Dackel und wird kein Windhund. Ein Jude, der in Deutschland zur Welt kommt bleibt Jude und ist kein Deutscher.“10
Am 28. November 1927 veröffentlichte Joseph Goebbels einen Leitartikel zum angeblichen Verhalten der Juden auf dem Kurfürstendamm im „Angriff“, der selbst die von ihm bereits gewohnte aggressive und primitive antisemitische Hetze noch übertraf, sie mit sexuellen Obsessionen anreicherte und die „rassisch“ legitimierte Judenfeindschaft der Nazis deutlich werden lies :
„Juden flanieren die Trottoirs herauf und herunter, blonde deutsche Mädchen im Arm. Und als einer der Proleten mit seiner Schulter einen runden, feisten, in Lack und Wohlgeruch einhertänzelnden Sohn des Wüstenvolks zufällig berührt, da haucht ihn der an, als sei er Herr dieser Stadt, und der andere, der Prolet, sein Knecht und Sklave. Was ihm einfiele, ob er nicht wüsste, dass er in seinem Habitus hier nur geduldet sei, warum er nicht draußen im Osten bliebe, und wieso er überhaupt dazu komme, den Glanz und die Pracht des Westens allein durch seine Existenz zu stören. Darauf nimmt der Prolet seine Handschrift zur Hand und drückt dem Hebräer seine Visitenkarte in gar nicht mehr miss zuverstehender Weise in die Visage hinein.“ Es handle sich bei diesen Juden, die am Kurfürstendamm flanieren, so Joseph Goebbels, um eine „Horde von asiatischen Freibeutern“.11

Die Weltwirtschaftskrise – neue Wirkungsmöglichkeiten für den Antisemitismus der Nazis

Mit der Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1929 in den USA ihren Ausgang nahm und bald darauf auch Deutschland erreichte, bekamen Faschismus und Antisemitismus hierzulande sehr viel günstigere Wirkungsmöglichkeiten und eine neue Schubkraft.
Die rasch anwachsende Not von schließlich mehr als sechs Millionen Arbeitslosen, die vielen ruinierten kleinen und mittelständischen Existenzen in der Landwirtschaft, in Handel und Gewerbe, führten zu einer tief gehenden politischen, ja alle Bereiche der Gesellschaft erfassenden Krise. Eben noch schien die Weimarer Republik sozialen Fortschritt auch für die Arbeiterschaft und die „kleinen Leute“ geboten zu haben: Löhne und Gehälter waren gestiegen, der kommunale Wohnungsbau führte in den Großstädten, nicht zuletzt in Berlin, zu menschenwürdigen Quartieren für Tausende Arbeiter und Angestellte. Die so genannte öffentliche Infrastruktur (öffentlicher Personennahverkehr, die Volksbildung, Freizeiteinrichtungen wie zum Beispiel Parks, Schwimmbäder und Sportstätten) wurde umfassend modernisiert und galt im internationalen Vergleich als vorbildlich.
Doch seit der Jahreswende 1929/30 erreichte die Weltwirtschaftskrise die Weimarer Republik und fegte die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahre, so begrenzt sie auch immer gewesen sein mögen, ebenso vom Tisch wie eine seit 1924 herrschende relativ stabile ökonomische und soziale Lage. Die sich jetzt angesichts der entfaltenden Wirtschafts- und Gesellschaftskrise bietenden Möglichkeiten zur Radikalisierung der politischen Szenerie im Sinne eines politischen Rechtsrucks nutzte niemand konsequenter und mit mehr Erfolg als die NSDAP. Dabei spielte der von ihr propagierte und praktizierte Antisemitismus eine bedeutsame Rolle – auch wenn die judenfeindliche Propaganda in den Wahlkämpfen aus taktischen Gründen etwas in den Hintergrund trat.12
Zum einen boten die Nazis eine für viele plausibel klingende Erklärung für die Ursache der Krise an: Schuld an Not und Elend sei das „jüdische Kapital“, das lediglich die Ausbeutung der „deutschen“ Arbeiter und die Vernichtung des „deutschen“ Mittelstandes als Ziel wirtschaftlichen Handelns begreife. Nicht die Produktion von materiellen Werten stehe hier im Zentrum unternehmerischer Aktivitäten, sondern die Abhängigmachung, ja der Ruin „deutscher“ Gewerbetreibender durch unseriöse Kreditgeschäfte. Darüber hinaus verfolgten jüdische Handwerker, Ladeninhaber, Freiberufler, wie zum Beispiel Ärzte und Rechtsanwälte, Bankiers und Unternehmer die systematische Verdrängung deutscher Konkurrenten mit allen nur denkbaren, vor allem unlauteren Mitteln.
Die „anständigen deutschen“ Kaufleute und Landwirte gerieten so in einen Zustand der „Zinsknechtschaft“ bzw. der Wehrlosigkeit gegenüber den unseriösen Machenschaften ihrer jüdischen Wettbewerber, so dass am Ende der Übergang ihres bankrotten Eigentums in „jüdische Hände“ unausweichlich sei.
Die Nazipropaganda führte hier die Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital ein, wobei selbstredend unterschiedslos alle jüdischen Unternehmer dem „raffenden Kapital“ zugeordnet wurden. Außerdem ginge es dem international organisierten „jüdischen Kapital“ – der „Goldenen Internationale“ – um die dauerhafte Schwächung des deutschen Volkes, der deutschen Nationalökonomie und auch des deutschen Staates, die dem Diktat des koordiniert handelnden „jüdischen Kapitals“ ausgeliefert werden sollten.13
Zum anderen beließen es die Nazis nicht bei der antisemitischen Propaganda. In den Jahren von 1930 bis 1932 erreichte der offene Terror der Nazis gegen Juden ein bisher nicht gekanntes Ausmaß. Dabei forderten die pogromartigen Gewalttätigkeiten in Berlin am 12. September 1931 besondere Aufmerksamkeit. Sie demonstrierten allen aufmerksamen Zeitgenossen bereits vor der Machtübernahme, was den Juden in Deutschland bevorstünde, wenn die Nazis einst über die staatlichen Repressionsinstrumentarien verfügen sollten, um ihre antisemitische Politik in die Tat umzusetzen.

12. September 1931 – Nazis jagen Juden auf dem Kurfürstendamm

Sonnabend, der 12. September 1931, war ein hoher jüdischer Feiertag – das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashana –, an dem sich in der Berliner Innenstadt die Synagogen füllten. Dies betraf auch das Gotteshaus in der Fasanenstraße, nur wenig Schritte vom Kurfürstendamm entfernt.
Etwa 1.000 Nazis, zumeist Angehörige der SA, unter die sich aber auch einige Mitglieder des „Stahlhelms“14 gemischt hatten, waren unter dem Kommando des jüngst berufenen SA-Führers in Berlin und Brandenburg, Wolf Heinrich Graf von Helldorf, und des Führers der SA-Untergruppe Berlin-Ost, Karl Ernst, aufgeboten worden, um in der Gegend des Kurfürstendamms eine regelrechte Menschenjagd auf Juden zu veranstalten. Ab 19.30 Uhr begann der Anmarsch von SA-Angehörigen mit der Straßenbahn, der U- und S-Bahn zur Gedächtniskirche, die offenbar als erster Treffpunkt diente. Viele der vor allem jungen Männer trugen das Parteiabzeichen der NSDAP und waren mit Braunhemden bzw. mit feldgrauen Uniformen bekleidet. Insgesamt waren nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Angehörige von mindestens dreizehn SA-Stürmen an den Ausschreitungen beteiligt.15
Als erste Opfer waren die Gottesdienstbesucher vorgesehen, die ihre Synagoge in der Fasanenstraße verließen. Zeitgleich sollten Terrortrupps den Kurfürstendamm, aber auch seine Seitenstraßen, nach Juden absuchen, sie verprügeln und für pogromartige Zustände sorgen. Auch das Eindringen in Restaurants und Cafés war vorgesehen. Nicht wenige der beteiligten Nazis waren mit Totschlägern, Knüppeln und Schlagringen, einige auch mit Pistolen bewaffnet.
Die Durchführung der Gewalttätigkeiten wurde von den beiden genannten SA-Führern koordiniert, die den Kurfürstendamm – von der Tauentzienstraße bis zum S-Bahnhof Halensee – in einem offenen Pkw der Marke Opel entlang fuhren, einzelnen Trupps immer wieder Befehle erteilten und Melder auf Motorrädern mit Instruktionen für den Fortgang der Aktionen versorgten. In ähnlicher Weise handelten der SA-Standartenführer Hell und sein Adjutant Hagemeister, die nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft aus einem Hanomag-Kraftwagen Anweisungen an die Tumultuanten richteten.16 So lautete in den Grundzügen die offenbar generalstabsmäßige Planung der SA-Führung.
Über den tatsächlichen Verlauf der von den Faschisten angezettelten, pogromartigen Aktionen berichtete ausführlich der Korrespondent des sozialdemokratischen „Vorwärts“:
„Kurz nach neun Uhr abends begannen sich größere Trupps von Nationalsozialisten am Kurfürstendamm zusammenzurotten. In der folgenden Zeit wurde der Zuzug von Hakenkreuzlern immer stärker, so dass um ½ 10 Uhr ungefähr tausend Nationalsozialisten versammelt waren. Es handelte sich hierbei offenbar um eine planmäßige Aktion der Hakenkreuzler, die den Zweck haben sollte, das jüdische Neujahrsfest zu stören. Ohne dass die rechtsradikalen Horden anfangs daran gehindert wurden, zogen sie randalierend den Kurfürstendamm entlang. Fortgesetzt ertönten die Rufe: ‚Deutschland erwache!’ und ‚Juda verrecke!’ Dabei wurden jüdisch aussehende Passanten von jugendlichen Rowdies angepöbelt und teilweise schwer verprügelt. Am bedrohlichsten wurde die Situation, als kurz vor 10 Uhr das jüdische Gotteshaus in der Fasanenstraße geschlossen wurde. Hier hatten sich inzwischen die Haupttrupps der Hakenkreuzler versammelt, die die aus der Synagoge kommenden Besucher erwarteten. Als die Massen herausströmten, wurden sie von Krakeelern mit wüsten Schmährufen empfangen und auch tätlich angegriffen. Nebenher liefen noch die Skandalszenen auf dem Kurfürstendamm, so dass schließlich die Passanten in die Nebenstraßen flüchteten. Die Polizei, die sofort alarmiert wurde, rückte umgehend mit einem großen Aufgebot an.(…)Am schwersten hatte der Mob vor der Konditorei Reimann am Kurfürstendamm gehaust. Die im Vorgarten stehenden Tische und Stühle wurden demoliert, ebenso wurde die große Schaufensterscheibe der Konditorei zertrümmert.“17
Aber nicht nur das Café Reimann wurde in Mitleidenschaft gezogen – Nazis gaben hier sogar zwei Schüsse in den Buffetraum ab, so dass eine große Panik entstand und die anwesenden Gäste um ihr Leben fürchten mussten –, sondern fast sämtliche Lokale zwischen der Uhlandstraße und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sahen sich gezwungen, ihren Geschäftsbetrieb einzustellen; sie ließen Rollläden und Eisengitter herunter. Für das Lokal Plantage an der Uhlandstraße/Ecke Kurfürstendamm war es indes zu spät für vorbeugende Maßnahmen: hier hatten die Nazis ähnlich wie im Café Reimann gewütet.
Zweifel an der zitierten Darstellung des „Vorwärts“, betreffend die Schnelligkeit, mit der die Polizei angeblich an den Orten des Geschehens eingetroffen sei, weckt allerdings nicht nur die Berichterstattung der der „Vossischen Zeitung“ . Unter der Überschrift „Wo war die Polizei?“ wurde hier gemeldet: „Aus allen Kreisen der Bevölkerung sind uns Beschwerden darüber zugegangen, dass die Polizeikräfte am Sonnabend abends zu spät, zu schwach und falsch eingesetzt worden seien. Um 8.45 Uhr war weit und breit kein Polizeibeamter zu sehen.“18 Auch die „Welt am Montag“ berichtete in diesem Sinne: „Unter den Passanten, die Zeugen der schamlosen Vorgänge waren, herrschte heftige Erbitterung über das Verhalten der Polizei, die viel zu spät eingriff und dabei auch jene Energie vermissen ließ, die der Berliner bei anderen Anlässen von ihr gewohnt ist.“19 Etwa 45 Minuten lang, so hieß es weiter, habe man die Nazis bei ihrem gewalttätigen Treiben „ungestört“ durch polizeiliche Maßnahmen gewähren lassen. Da weit und breit kein Polizeibeamter zu sehen gewesen sei, hätten sich die Krawalle der Nazis, die „teilweise pogromartigen Charakter trugen“, bis in die späten Abendstunden ausgedehnt. Auch die Gegend am Hardenbergplatz, die östliche Kantstraße und der Bahnhof Zoo seien zumindest zeitweilig Ort von polizeilich nicht unterbundenen Gewalttätigkeiten gewesen.
In den Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin findet sich die folgende Aussage eines unter Eid vernommenen Zeugen namens Kraft, der die Ereignisse am Abend des 12. September plastisch werden lässt, wobei auch hier von Polizeikräften, die den Überfallenen Hilfe hätten gewähren können und müssen, keine Rede ist:
Kraft „ging mit seiner fast siebzigjährigen Mutter und mit einer befreundeten Arztfamilie von der Wielandstraße auf der linken Seite des Ku’damms in Richtung Knesebeckstraße. Kurz vor der Erreichung der Knesebeckstraße hörte man von der Uhlandstraße her laute Rufe aus mehreren hundert Kehlen, und unmittelbar darauf kamen den genannten Passanten zu beiden Seiten des Ku’damms Trupps entgegen, die je etwa 50 Mann stark waren und zunächst laut im Sprechchor schrien: ‚Wir haben Hunger’, ‚Wir wollen Arbeit’. Nachdem die ersten Trupps vorübergezogen waren, setzten andere Rufe ein, nämlich: ‚Schlagt die Juden tot’. Unmittelbar darauf stürzte sich aus einem der Trupps ein etwa 25jähriger Mann von der Seite auf den Zeugen und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht; Ober- und Unterlippe, Zahnfleisch und innere rechte Backe wurden aufgeschlagen. Die Rufe gegen die Juden wurden lauter, der Zeuge und seine Begleiter flüchteten in ein an der Knesebeckstraße stehendes Auto. Sie wurden noch verfolgt von mehreren Demonstranten, die mit drohender Gebärde riefen: ‚Verfluchtes Judenpack, heute ist Neujahr!’“20
Die vor Gericht formulierten Aussagen anderer Zeugen bestätigen die große Brutalität, mit der die Gewalttäter vorgingen. Da ist die Rede von „schweren Schlägen“, die der jüdische Lehrer Dr. Rosenfeld empfangen habe; da wird ein Verkäufer namens Limburg, den die Nazis für einen Juden hielten, schwer verletzt; den Dentisten Pauly, der wegen seines „dunklen, süddeutschen Typs“21 fälschlicherweise als Jude angesehen wurde, schlugen Nazis beim Verlassen eines Kinos am Kurfürstendamm ohne Vorwarnung brutal nieder. Ähnlich erging es dem Gerichtsassessor Dr. Peter Derichsweiler, der ironischer Weise offenkundig Affinitäten zu rechtsextremem Denken aufwies: „Der Zeuge ist kein Jude, auch wenn er offenbar als Jude angesehen wurde. Er ist ein Bundesbruder Albert Leo Schlageters22 und hat zur Ehrenrettung Schlageters viel über sein Wirken geschrieben. Dies ein Beweis dafür, wie blindwütig die Misshandlungen erfolgten.“23
Schließlich sei aus der Zeugenaussage des Zahnarztes Hans Hecht und seiner Mutter zitiert: Als sie abends auf dem Kurfürstendamm spazieren gingen, hörten sie Rufe: „Schlagt die Juden tot!“ Daraufhin suchten sie „Zuflucht vor dem Geschäft von Siegfried Levy. Als sie sich dort die Auslagen ansahen, kamen aus der Masse etwa fünf Leute auf sie zu, von denen einer dem Sinne nach rief: ‚Da haben wir ja einen!’ Darauf lief die Zeugin Erika Hecht fort, rief ‚Hilfe!’ und geriet in einen Trupp von 50-60 Leuten, die rufend einhergestürzt kamen. Sie bekam…einen heftigen Stoß gegen die Schläfe und riss ihren Hut ab, um durch ihr blondes Haar zu zeigen, dass sie keine Jüdin sei.“24
Vor Gericht sorgten diese und die anderen Aussagen ihrer Opfer übrigens „für eine fröhliche Stimmung“25 auf Seiten der Angeklagten. Offenbar waren sie sich von vornherein sicher, keine allzu schweren Strafen verbüßen zu müssen. Mehrfach begrüßten sie, teilweise in „Parteiuniform“ gekleidet, von der Anklagebank aus ihre „Kameraden“ der NSDAP und der SA mit „Heil“-Rufen und erhobenem Arm!26
Besonders nachdenklich stimmt ein Artikel der „Jüdischen Rundschau“, in dem von durchaus vorhandener Sympathie bei einigen der Passanten für das judenfeindliche Treiben der Nazis berichtet wird.
„Wir konnten…an verschiedenen Stellen Aussprüche hören, wie: ‚Was haben auch die Juden im Zylinder einherzuspazieren?’ ‚Warum tragen die dicken Jüdinnen so aufreizend Pelze und Blumensträuße?’ ‚Die Leute haben recht, auf der einen Seite Not, auf der anderen Festtagskleider’. Diese Äußerungen sind unserer Meinung nach schwerer wiegend als die Ausschreitungen der Hakenkreuzler. Denn die Exzedenten waren eine kommandierte Horde, die aus Disziplin handelte, wobei natürlich die Betätigung des Instinktiven und durch die Parteischulung anerzogenen Judenhasses ihnen ein besonderes Vergnügen bereitete. Die Haltung und Zustimmung der Zuschauer aber waren ein Beweis, wie weit sich die seit Jahren hemmungslos getriebene Hetze gegen die Juden in die Massen hineingefressen hat.“27

Der „Kurfürstendamm-Krawall“ vor Gericht

Wie es nicht anders zu erwarten war, gingen die faschistischen Gewalttäter mit eher geringfügigen Strafen aus den gegen sie angestrengten Gerichtsverfahren hervor. Achtundzwanzig der angeklagten Nazis wurden zu Freiheitsstrafen von neun Monaten bis zu einem Jahr und neun Monaten verurteilt.28 In den Revisionsverhandlungen, die im Februar 1932 stattfanden, wurden sämtliche Strafen herabgesetzt und die in erster Instanz verurteilten SA-Führer Graf Helldorf und Ernst, die nach den Ereignissen am 12. September zunächst die Flucht ergriffen hatten, sogar frei gesprochen.29
In der Urteilsbegründung wurden die Verantwortlichkeiten – wie es Dirk Walter formuliert – „bis zur Unkenntlichkeit verwischt“.30 Helldorf und Ernsts Verhalten, das angeblich darauf abzielte, die versammelten SA-Männer auf dem Kurfürstendamm von Straftaten abzuhalten, wurde vom Gericht skandalöser Weise mit dem verantwortungsvollen Handeln eines Vaters gegenüber seinem Sohn verglichen, der Gefahr läuft, gegen das Gesetz zu verstoßen. Wörtlich hieß es in der Urteilsbegründung des Berliner Landgerichtes:
„Wenn bei einem Landfriedensbruch ein Vater seinen Sohn inmitten der gewalttätigen Menge sieht und er sich darum selbst in die Zusammenrottung begibt, um seine Sohn möglicherweise von einer Beteiligung abzubringen, so kann dieser Vater, mag er im übrigen alle äußeren und inneren Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes erfüllen, doch nicht wegen Landfriedensbruches bestraft werden, da es ihm unmöglich zugemutet werden konnte, seinen Sohn im Stich zu lassen und nicht einmal den Versuch zu machen, ihn vor einer Straftat oder ihrer Fortsetzung zu bewahren. Ein ähnlicher Fall war hier gegeben.(…)Ihre Staatsbürgerpflicht befahl ihnen (Helldorf und Ernst-R.Z.), den Platz alsbald zu verlassen; ihre Führerpflicht gebot, bei der Menge auszuharren, um sie vor weiterem Rechtsbruch zu bewahren. Dieser Führerpflicht zu entsagen konnte ihnen bei der besonderen Lage des Falles nicht zugemutet werden; sie zu bestrafen, weil sie unter solchen Umständen Unrecht taten, erschiene als eine vom Gesetz nicht gewollte, nach dem Gesetz ungerechte Härte.“31
Die koordinierende und organisierende Tätigkeit von Helldorf und Ernst wird hier in ihr Gegenteil verkehrt; die Handlungen der beiden SA-Führer, die aus ihrem Fahrzeug Befehle an die antisemitischen Tumultuanten erteilten, werden in Bestrebungen umgedeutet, Schadensbegrenzungen versucht zu haben. Die Absurdität dieser Argumentation lag klar auf der Hand, aber es war für die Justizorgane in der Weimarer Republik die allgemein übliche Praxis, Straftaten von Nazis mit bemerkenswerter Milde zu quittieren und als Staatsanwalt oder Richter in einer Weise zu agieren, als sei man ein besonders engagierter Verteidiger der Angeklagten.
Dass im Urteil des Landgerichts Berlin die antisemitische Motivation der Nazis, die offen zu Tage lag, fast gar keine Rolle spielte, sei nur am Rande erwähnt. Man verhielt sich so, als wolle man den Rat des oben zitierten Strafverteidigers von anno 1921 anwenden, nämlich aus einer „betrunkenen Mücke keinen antisemitischen Elefanten zu machen“.
Der eigentliche Justizskandal spielte sich jedoch hinter den Kulissen ab und hatte seine Akteure in der Person des Reichskanzlers Dr. Heinrich Brüning (Zentrumspartei) und des Berliner Nazi-Gauleiters Dr. Joseph Goebbels. Ausgangspunkt war der bevorstehende Besuch des französischen Ministerpräsidenten Pierre Laval und seines Außenministers Aristide Briand in Berlin. Die Reichsregierung befürchtete gewaltsame Demonstrationen der Nazis und einen dadurch verursachten Misserfolg der am 27. September beginnenden deutsch-französischen Verhandlungen, die angesichts der internationalen Finanz- und Bankenkrise von großer Bedeutung waren.
Heinrich Brüning entschloss sich angesichts dessen, Goebbels auf dessen Bitte zu einem Gespräch zu empfangen, um ihn von der Notwendigkeit einer „beruhigten Lage“ in Berlin zu überzeugen, solange sich die französische Delegation in der Reichshauptstadt aufhalten werde. In seinen Memoiren überliefert Brüning mit folgenden Worten den Inhalt dieses Gesprächs:
„Zwei Tage vor dem französischen Besuch war plötzlich Herr Goebbels bei mir. Es waren die Tage der so genannten Kurfürstendammprozesse. Er erzählte mir, sein Freund, Graf Helldorf, schwebe in großer Gefahr. Sein Chauffeur sei schon verurteilt, das Verfahren gegen Helldorf wegen dessen Nichterscheinens abgetrennt, aber eine neue Verhandlung gegen den Grafen von denselben Richtern anberaumt, so dass seine Verurteilung sicher wäre, da der Chauffeur schon vorher auf Grund der gleichen Vernehmung verurteilt worden sei. Ich erklärte Goebbels, dass ich eine Verhandlung des Sonderprozesses gegen Helldorf von denselben Richtern nicht für das Richtige hielte. In ein schwebendes Verfahren könnte ich aber nicht eingreifen, zumal ich ja nicht sicher wäre, ob nicht dann die Nazis und die SA-Leute des Grafen Helldorf den Besuch der französischen Minister stören würden. Goebbels verstand sofort. Er erklärte, er sei in der Lage, das unter allen Umständen zu verhindern. Darauf bat ich ihn zu warten, ließ Joel (Staatssekretär im Reichsjustizministerium-R.Z.) und Weismann (Staatssekretär der preußischen Staatsregierung-R.Z.) kommen und fand zusammen mit ihnen einen Ausweg, ohne eine Verletzung der Gerichtsverfassung, den Prozess Helldorf zu verschieben, so dass er vor anderen Richtern verhandelt werden musste. So war ich sicher, dass der Besuch der Minister nicht gestört wurde.“32
In juristischer Terminologie müsste das Verhalten des Chefs der Reichsregierung, das von der NSDAP-Führung nur als Ansporn zu weiteren Gewaltaktivitäten verstanden werden konnte, als Strafvereitelung im Amt bezeichnet werden. Dass angesichts der den zuständigen Richtern und Staatsanwälten mit Sicherheit nicht verborgen gebliebenen Intervention des Reichskanzlers die beiden Haupttäter, Helldorf und Ernst, wie schon erwähnt, am 9. Februar 1932 frei gesprochen wurden und lediglich eine Geldstrafe von jeweils 100 Mark „wegen öffentlicher Beleidigung“ an die Staatskasse zu entrichten hatten, darf angesichts all’ dessen nicht verwundern.33
Dass die wegen ihrer Teilnahme an den Kurfürstendamm-Krawallen angeklagten Nazis juristisch exzellent vertreten wurden, soll nicht unerwähnt bleiben. Unter anderem die Rechtsanwälte Dr. Roland Freisler, später Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes, Dr. Hans Frank, er amtierte von 1939 bis 1945 als Generalgouverneur der nicht in das „Dritte Reich“ eingegliederten Teile des okkupierten Polen (Generalgouvernement) und der Strafverteidiger Dr. Zernack, nutzten die Bühne des Gerichtes zu antisemitischer Propaganda. Es schiene ihm – so Letzterer – als solle „für eine bestimmte Rasse ein Sonderschutz aufgestellt, und ihr das Vorrecht auf bestimmte Straßen eingeräumt werden.“34 Freisler tischte vor Gericht das Märchen von so genannten bezahlten Lockspitzeln auf, die im Auftrage des sozialdemokratischen „Reichsbanners“ sowie mit Wissen und ausdrücklicher Billigung des Preußischen Innenministeriums die Vorkommnisse am Kurfürstendamm ausgelöst hätten.35
Eine ähnliche, die Nazi-Schläger exkulpierende „Argumentation“ hatte auch der Berliner SA-Führer Graf Helldorf in seiner Aussage vor Gericht aufgetischt. Ihm zufolge hätten „kommunistische Spitzel“ den Krawall provoziert, „um der NSDAP Ungelegenheiten zu schaffen.“36 Der Angeklagte Fritz Meede, ein vierundzwanzigjähriger Kaufmann, verstieg sich sogar zu der Behauptung, er sei zu Gewalttätigkeiten erst „durch die hypermoderne Kleidung eines jüdischen Kurfürstendamm-Passanten gereizt worden.“37
Als am 30. Januar 1933 Hitler und die Seinen die Macht übertragen bekamen, waren die wegen ihrer Teilnahme an den „Kurfürstendamm-Krawallen“ verurteilten Nazis ausnahmslos amnestiert worden. Ein Beschluss des 2. Strafsenats des Reichsgerichtes in Leipzig vom 3. Januar 1933 hob auf Antrag des Oberreichsanwaltes alle noch anhängigen Verfahren auf. Die Grundlage hierfür bot das Gesetz über Straffreiheit vom 20. Dezember 1932, in dem politische Straftaten und Straftaten, die aus „wirtschaftlicher Not“ unternommen worden waren, amnestiert wurden. So blieben die antisemitischen Exzesse vom 12. September 1931 letztlich juristisch ungesühnt.

Zusammenfassung

Der so genannte Kurfürstendamm-Krawall war einer der am größten dimensionierten, in aller Öffentlichkeit veranstalteten Gewaltaktionen gegen Juden in der Weimarer Republik. Er steht auf einer Stufe unter anderem mit den pogromartigen Ereignissen im November 1923 im Berliner Scheunenviertel38 und den judenfeindlichen Aktionen von Jungnazis in der Leipziger Straße und ihrer Umgebung am Tage der konstituierenden Sitzung des Reichstages am 13. Oktober 1930.39
Die genauen Motive der Naziführung, am 12. September 1931 eine groß angelegte antijüdische Aktion mit dem massenhaften Einsatz von Gewalt durchzuführen, lassen sich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Eine Rolle spielten dabei womöglich „von unten“ ausgehende Initiativen der Berliner SA, die ihrem neuen, aus gräflichem Hause stammenden Führer v. Helldorf auf das bei ihnen vorherrschende „Rabaukentum“ zu verpflichten gedachten, wobei der militante Antisemitismus einen Hauptbestandteil des ideologischen Selbstverständnisses der SA-Männer darstellte.40
In den Gerichtsakten ist ein Schreiben der Politischen Polizei (Abteilung IA) des Berliner Polizeipräsidiums vom 6. Oktober 1931 überliefert, derzufolge einige Tage vor dem 12. September Goebbels und Helldorf „über eine gelegentlich des jüdischen Neujahrsfestes zu veranstaltende Erwerbslosen-Demonstration gesprochen“41 hätten. Am Ende habe man sich darauf verständigt, alle erreichbaren SA-Leute auf den Kurfürstendamm zu entsenden und hier und in seiner Umgebung – wo immerhin 25 Prozent der Wohnbevölkerung Juden waren – antisemitische Aktionen durchzuführen. Goebbels selbst weigerte sich am 23. Januar 1932 die ihm vom Gericht gestellte Frage zu beantworten, ob er vorab Kenntnisse über am 12. September beabsichtigte Demonstrationen am Kurfürstendamm hatte, wofür ihm eine Geldstrafe in Höhe von 500 Mark auferlegt wurde.
Tatsache war, dass am 12. September 1931 in den Sturmlokalen und –heimen der Berliner SA geradezu „Hochbetrieb“ herrschte. Dass die Polizei hier nicht bereits am Abend der Krawalle Haussuchungen durchführte und diese Nazi-Etablissements im Zweifelsfall schloss, traf in der liberalen Presse auf großes Unverständnis. Die „Welt am Montag“ kritisierte, dass, „obwohl der starke Verkehr in den Kasernen der Nazis allgemein auffiel, diesen Kellern, in denen die wirkliche Berliner Unterwelt haust, jeder polizeiliche Besuch erspart blieb. Es ist beinahe unglaublich, dass die Polizei gerade an den Stellen nicht durchgriff, wo die Fäden der Krawalle zusammenliefen und die untere Leitung der verbrecherischen Aktion ungestört ihre Befehle empfangen und weiterleiten konnte.“42
Der Redakteur der „Vossischen Zeitung“, Max Reiner, gab in einem privaten Gespräch, das er einen Tag nach den Ereignissen am Kurfürstendamm mit dem Preußischen Innenminister Carl Severing (SPD) führte, seiner Überzeugung Ausdruck, dass „in der Polizei und in der Beamtenschaft überhaupt starke nazistische Sympathien vorhanden seien.“ Charakteristisch sei es, „dass die Polizei ausgezeichnet über alles informiert sei, was bei den Kommunisten vorgehe, aber anscheinend ahnungslos, sowie die Nazis in Betracht kämen“. Über die Entscheidungsprozesse innerhalb der NSDAP und in der SA sei die Polizei „völlig ununterrichtet“. Im Unterschied dazu wüssten „die Nationalsozialisten sehr gut Bescheid, was in der Polizei vorgehe. Bei jeder Haussuchung stelle sich heraus, dass die Partei vorher eine Warnung erhalten habe.“43
Besonders wichtig für die Interpretation der Nazi-Aktionen am Abend des 12. September erscheint jedoch, dass die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch das geistige Klima, innerhalb derer die antijüdischen Gewalttätigkeiten am Kurfürstendamm einzuordnen sind, sich inzwischen dramatisch verändert hatten. Nicht nur innerhalb der gesamten NS-Bewegung, sondern weit über sie hinausreichend war „im Laufe des Jahres 1931 eine Art von Krisenbewusstsein entstanden. Die antisemitische Gesellschaftsstimmung, die die Nationalsozialisten geschaffen, am Leben erhalten und radikalisiert hatten, war nun nicht mehr zu übersehen.“44
Insgesamt verschob sich das politische Koordinatensystem der Weimarer Republik im Verlaufe des Jahres 1931 deutlich nach rechts, was auch die Attraktivität antisemitischer Ideologeme für wachsende Teile der Bevölkerung beinhaltete.
Die Tagung der Harzburger Front vom 11. Oktober 1931, als Hitler in aller Deutlichkeit seinen Führungsanspruch im Lager der rechtsextremen und konservativen Kräfte anmeldete, war hierfür ein unübersehbarer Indikator, wie auch die stete Rechtsentwicklung der Regierung Brüning, deren kombinierter Sozial- und Demokratieabbau Hitler und seiner NSDAP den Boden bereiteten.45
Was die Juden betraf, so war die Neigung staatlicher Behörden, der Justiz und der Polizei, den Juden einen angemessenen Schutz vor den Anfeindungen der Faschisten zukommen zu lassen, außerordentlich gering, ja mitunter nicht vorhanden. Vielmehr herrschte hier ein „administrativer Antisemitismus“ (Ludger Heid).
Die Geschehnisse am 12. September 1931 verdeutlichen: Gewalt gegen Juden setzte keineswegs erst nach der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 ein. Bereits in den Jahren zuvor erprobten die aufgeputschten Schläger der SA alles das, was sie den Juden nach der ersehnten Übernahme der Regierungsverantwortung antun wollten. Vor allem verdient festgehalten zu werden, dass bis weit in das Bürgertum und seine politische Parteien, Organisationen und Medien hineinreichend, Übereinstimmung darin bestand, die Verbreitung antisemitischen Gedankengutes zu tolerieren, wenn nicht zu fördern, gesellschaftlichen Umgang mit Juden auf ein Mindestmaß zu reduzieren, wenn nicht ganz zu vermeiden, und die Anwendung physischer Gewalt gegenüber Juden zu verharmlosen und nach anderen als den sonst üblichen Maßstäben von Recht und Moral zu beurteilen.
Übrigens: Kaum jemand konnte später auch angesichts einer sehr ausführlichen Berichterstattung und Kommentierung in der zeitgenössischen Presse ernsthaft behaupten, er habe von antisemitischen Ausschreitungen der Nazis vor 1933 nichts gehört und gesehen.

Reiner Zilkenat